Mit Marx gegen Moskau?

Rezension zu „Marx gegen Moskau. Zur Außenpolitik der Arbeiterklasse“ von Timm Graßmann

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat eine lange Vorgeschichte und spätestens seit dem 24. Februar 2022 viele Linke an ihrem antimilitaristischen Selbstverständnis zweifeln lassen. Diejenigen, die daran festhalten, handeln sich den Vorwurf ein, Putin oder Russland politisch nahezustehen. Dabei ist Putin ein Rechter, was ebenso für seine Stichwortgeber gilt, egal ob Alexander Dugin oder Iwan Iljin [1]. Dabei waren und sind eher Mitglieder der AfD, der SPD, auch der CDU und CSU in Geschäfte mit dem russischen Staatskapitalismus verwickelt. Schon länger wird etwa von der Linkspartei oder den Grünen ein Untersuchungsausschuss eingefordert, der die Abhängigkeit Deutschlands von russischen Gaslieferungen aufarbeiten soll. Dennoch tut sich die Linke schwer damit, den Krieg, dessen Ende auch nach mehr als dreieinhalb Jahren dauernder Bombardements und Kämpfe kaum abzusehen ist, im Rahmen einer marxistischen Theorietradition zu analysieren.

Im Oktober 2024 erschien im Schmetterling Verlag Marx gegen Moskau von Timm Graßmann. Der Band berücksichtigt erstmals alle derzeit zugänglichen marxschen Texte und Editionen, inklusive der neuesten Veröffentlichungen in der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA²); die Diskussion der marxschen Positionen zu Russland umfasst die Zeit der europäischen Revolutionen um 1848 bis zu seinen letzten Lebensjahren. Ausgewertet werden nicht nur die zu Lebzeiten publizierten Texte, sondern auch Exzerpte, die zeigen, wie intensiv Marx sich bis ins hohe Alter mit der russischen Geschichte auseinandergesetzt hat und die Relevanz, die er dem Zarenreich für die internationalen Beziehungen zuschrieb. Graßmann fragt nicht nur nach Marx’ Analyse der russischen Außenpolitik (und der Rolle des Westens), sondern geht auch Marx’ politischen Positionen und seinem Engagement nach, eine „Außenpolitik der Arbeiterklasse“ zu formulieren, denn, so Marx’ Analyse, auf die (westlichen) Nationalstaaten ist bei der Unterstützung von demokratischen Republiken kein Verlass. Eindringlich zeigt Graßmann, wie Marx im Rahmen der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) und darüber hinaus für eine Politik eintrat, die die politische Form „Republik“ gegenüber absolutistischen oder autoritären Formen der Herrschaft verteidigte – und nicht selten deshalb mit politischen Mitstreitern über Kreuz lag.
Seit Veröffentlichung der sehr lesenswerten und erhellenden Studie Graßmanns sind mehrere Interviews, [2] jedoch nur wenige Besprechungen des Buches erschienen. [3] In den Gesprächen mit Graßmann wird deutlich, was ihn zu diesem Buch bewog und was er herausgefunden hat. Denn selbst für Graßmann, der sich mit Marx sehr gut auskennt, war dann doch manches neu, etwa Marxʼ Beschäftigung mit den Arbeiten des ukrainischen Historikers Mykola Kostomarov (russ.: Nikolaj Ivanovič Kostomarov, in früheren Editionen der ethnologischen Arbeiten [4] ausgespart, jetzt aber in der MEGAdigital [5] erschienen). Gegenüber der taz stellt Graßmann heraus:

„Ich arbeite jeden Tag mit Marx-Texten und wusste schon immer, dass Russland und Polen für Marx irgendwie wichtig waren, aber auch ich konnte lange nicht richtig verstehen, was eigentlich dahintersteckt.“ [6]

Anlass für das Buch war der Angriffskrieg Russlands; es stellt jedoch „keinen Versuch einer unmittelbaren Erklärung der aktuellen Ereignisse dar“ (S. 12). Vielmehr ziele es auf das „Schaffen von Marx und seiner Zeitgenossen“ ab und sei deshalb „als eine Art ‚Vorgeschichte‘ zu verstehen, mit deren Hilfe auch Voraussetzungen zu einem Begriff von der Herrschaft Putins und seiner Großinvasion gewonnen werden können. Mittels des Marx’schen Verständnisses der Vergangenheit wird es möglich, einen neuen Blick auf die Gegenwart zu werfen“ (ebd.). Das ist trotz der zurückhaltenden Formulierung eine starke These. Die Unterzeile des Beitrags in den Blättern für deutsche und internationale Kritik spitzt sie zu: „Wie Karl Marx Russlands Krieg gegen die Ukraine betrachten würde“.

Das Buch hat drei Teile. Im ersten Teil stellt Grassmann Marx’ Kritik der russischen Autokratie sowie seine Analysen zu Ursprung, Entwicklung, Zielen und Methoden ihrer Außenpolitik dar. Dabei spielt der Begriff der asiatischen Produktionsweise eine zentrale Rolle. In den Blättern fasst Graßmann zusammen:

„Den Ursprung der russischen Autokratie und ihrer planmäßigen Eroberungspolitik sah Marx noch vor der Entstehung des Kapitalismus. Er lag vielmehr in der ‚asiatischen Produktionsweise‘. Diese galt ihm – neben der antiken, der feudalen und der kapitalistischen Produktionsweise – als eine der besonderen Produktionsformen, welche die Menschheit bislang hervorgebracht hat. In der ‚asiatischen‘ Form der gesellschaftlichen Beziehungen erhebt sich ein despotischer Staat, ausgestattet mit einer bürokratischen Klasse und einer starken Armee, über eine atomisierte, inaktive, zur gemeinsamen Aktion unfähige Gesellschaft aus voneinander isolierten Produzenten und presst deren Surplusarbeit durch exzessive Besteuerung ab.“ [7]

Graßmann tritt der gängigen Erzählung entgegen, Marx wäre in frühen Jahren kritisch gegenüber Russland gewesen, habe später aber seine Position revidiert. Dieses Narrativ diente im 20. Jahrhundert der Legitimierung sowjetischer Herrschaft. Moskaukritische Töne störten da nur. Leider ist es bis heute wirkmächtig geblieben. Es bleibt zu hoffen, dass Graßmanns Buch dieses Bild korrigiert.

Aus der Darstellung der marxschen Positionen lasse sich – das ist der zweite Teil – die Unterscheidung von Staat und autoritärem Staat herausarbeiten: „Nach Marx fassen autoritäre Staaten die Gesellschaft nicht zusammen, sondern versuchen, sie sich zu unterzuordnen.“ (S. 15) Für diese Analyse sind die Begriffe Bonapartismus und Zarismus entscheidend. Marx hielt gegen diese Form des autoritären Staats die Republik hoch. [8] Welche politischen Konsequenzen er aus seiner Kritik an Zarismus und Bonapartismus zog, was für einen Kompass für eine „Außenpolitik der Arbeiterklasse“ (S. 17) er daraus entwickelte, ist wesentlich im dritten Teil nachzulesen. Bereits in der Einleitung resümiert Graßmann:

„Aus Marx’ Praxis in der internationalen Politik mag sich ein außenpolitischer Kompass ergeben, der noch heute funktioniert. Die Außenpolitik der Arbeiterklasse sollte nach Marx weder pro- noch anti-westlich, weder pazifistisch noch militaristisch sein. Sie hätte sich in erster Linie gegen das Imperium der Reaktion zu richten, da dieses keinerlei ‚zivilisierende‘ Seite hat, sondern bloße Gewalt bedeutet. Seine Außenpolitik war republikanisch, demokratisch und abolitionistisch sowie anti-autoritär, anti-bonapartistisch und damit gewissermaßen ‚anti-faschistisch‘. Am Ende seines Lebens machte Marx sich durch die Schriften des ukrainischen Historikers Mykola Kostomarov auch näher mit der Geschichte der Ukraine und ihren Unabhängigkeitskämpfen im 17. Jahrhundert vertraut […]. Er entdeckte eine weitere demokratische Bewegung in Osteuropa, die sich Moskau schon lange in den Weg gestellt hatte und dies auch weiterhin tun würde.“ (S. 19)

Fragen, die der russische Angriffskrieg aufwirft, ziehen sich wie ein Silberfaden durch das Buch; der rote Faden ist ein anderer. Leider werden damit sowohl die Ausführungen zu Marx als auch der Anspruch, Lehren für die Gegenwart zu ziehen, vermengt. Es gibt bisher keine vergleichbare Arbeit, die sich mit Marx’ Positionen zu Russland beziehungsweise seinem außenpolitischen Selbstverständnis derart kenntnisreich und anhand des neusten Materials auseinandersetzt (ältere Texte gibt es durchaus [9]). Das Buch hätte also das Zeug zu einem „Geheimtipp“, einem Klassiker, den man auch in einigen Jahren noch mit Gewinn in die Hand nimmt. Der in den gegenwärtigen Konflikten befangene Blick strukturiert jedoch stark die Aneignung der marxschen Auseinandersetzung (und auch die Besprechungen des Buchs). Es wäre erhellender gewesen, der Frage, was wir für heute mitnehmen können und was nicht, ein separates Kapitel zu widmen. So aber bekommen beide Aspekte – der historische und der aktuelle – nicht den jeweils eigenen Stellenwert, den sie verdient haben: Marx‘ Auseinandersetzung mit Russland, seine Erklärung des kolonialen Charakters sowie seine „Außenpolitik“, seine Solidarität mit demokratischen Gegenkräften einerseits und eine informierte Positionierung zur Vorgeschichte von Putins Regime und seinem Krieg andererseits. [10]

Parallelen zieht Graßmann an mehreren Stellen. Eine möchte ich herausgreifen. „Einige Elemente der traditionellen russischen Außenpolitik, wie sie Marx in ihrer Grundstruktur beschrieben hat, scheinen heute ungebrochen weiter zu existieren. In der Tat gab es niemals einen konsequenten Bruch mit ihr, sie ist immer nur transformiert worden. Die ‚russische Welt‘ zusammenzuführen, einen (größtmöglichen) Pol der schönen neuen multipolaren Ordnung zu besetzen scheinen nur Vorwände zu dem übergeordneten Ziel, selbst über die Welt zu herrschen. Eine Eroberung ist nur das Sprungbrett für die nächste. Russland nutzt dabei sowohl die Kraft der unterworfenen und kontrollierten Völker als auch die des Westens, die schlussendlich gebrochen werden soll. Das Einschmuggeln von Technologie, die Bestechung aufstrebender und etablierter Politiker, Propaganda- und Spionageapparate, die Unterstützung reaktionärer und ‚linker‘ Kräfte. Russland zieht weiterhin alle Register der Manipulation und der Gewalt.“ (S. 80, Hervorhebungen von mir)

An dieser Stelle ist Graßmann unsicher, ob es eine Tradition gibt oder nicht. Marx ging von einer aus. In seiner Schrift Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie im 18. Jahrhundert verfolgte er diese Tradition bis ins 17. Jahrhundert zurück. Der Text wurde bis heute nicht in die Marx-Engels-Werkausgabe (MEW) aufgenommen, da das Moskauer Institut für Marxismus-Leninismus 1952 beschied, sie solle „nicht in Deutschland publiziert werden“. (Die Veröffentlichung ist geplant für Band 45 der MEW). [11]

In den Enthüllungen, die Graßmann ausführlich referiert und diskutiert, [12] formuliert Marx zusammenfassend:

„Das moskowiter Reich wurde in der schrecklichen und nichtswürdigen Schule mongolischer Sklaverei genährt und aufgezogen. Zu Kräften gelangte es nur, weil es in der Kunst des Sklaventums zum Virtuosen wurde. Selbst nach seiner Emanzipation spielte es die traditionelle Rolle des zum Herrn gewordenen Sklaven weiter. Peter der Große schließlich war es, der das politische Gewerbe des Mongolensklaven mit dem stolzen Ehrgeiz des mongolischen Gebieters vereinte, dem Dschingis Khan in seinem Testament die Eroberung der Erde vermacht hatte.“ [13]

Wer mag da nicht an Russlands Kriege (von Tschetschenien über Georgien) bis hin zum gegenwärtigen Krieg und Putins Terror denken? Graßmann schreibt deshalb:

„Ausgehend von der Frage, warum es gerade das kleine, unbedeutende, unauffällige Moskau, und nicht ein anderes Fürstentum oder gar die große Republik Novgorod war, aus dem das moderne Russland hervorging und zum flächenmäßig größten Land der Erde aufstieg, gelangte Marx zu einer anderen allgemeinen Formel: Die alte mongolische Tradition eines Strebens nach weltweiter Macht wurde von den Moskauer Großfürsten adaptiert und unter Peter dem Großen zur Staatsgesinnung weiterentwickelt. Er beschrieb damit, anders als Geyer (2020, 113) es verstand, [14] kein ‚Naturgesetz der russischen Geschichte‘, sondern eine politische Tradition, mit der bis heute niemals bewusst gebrochen worden ist.“ (S. 65, Hervorhebungen von mir)

Von „Tradition“ ist bei Graßmann vielfach die Rede, der Begriff wird jedoch weder expliziert noch sozialwissenschaftlich verankert (etwa als Pfadabhängigkeit, longue durée oder Institution). Was meint Tradition – und vor allem: Wie stellt sie sich her, wie können „Elemente traditioneller russischer Außenpolitik“ in der von Marx beschriebenen „Grundstruktur“ bis heute ungebrochen weiterexistieren? Diese Frage nicht zu stellen, gleichzeitig ein „Naturgesetz“ abzulehnen, lässt die Lesenden etwas ratlos zurück. Was nicht nötig gewesen wäre, würde man Marx nicht zu viel Erklärungskraft für die Gegenwart aufbürden. Denn „Tradition“ wird hier nicht allein als bewusste Wiederaufnahme verstanden, als Kokettieren mit der Vergangenheit, als eine „rekursive“ Tradition, auf die sich Putin beruft, sondern als eine „präfigurative“ Tradition, als eine die wirksam ist, die Entwicklungen erklären kann, die Putin quasi vollstreckt.

Ich habe anfangs gezögert, Graßmanns Marx gegen Moskau zu besprechen, weil das eine zentrale Kritik ist und ich mich zu wenig in der russischen Geschichte auskenne, um substanziell diskutieren zu können, wie die longue durée, die unterste Ebene der Zeitschichten für Russland nachgezeichnet werden müsste, um Braudels Begriff der „strukturellen Zeit“ beispielhaft für diese Frage heranzuziehen. Unter dieser verstand er eine Realität, „die von der Zeit wenig abgenutzt und sehr langsam fortbewegt wird“. [15] Aber manche „langlebigen Strukturen werden zu stabilen Elementen einer unendlichen Kette von Generationen: Sie blockieren die Geschichte, stören – und bestimmen also – ihren Ablauf. Andere zerfallen wesentlich schneller. Aber alle sind gleichzeitig Stützen und Hindernisse. Hindernisse machen sich als Grenzen bemerkbar (als Eingrenzungen im mathematischen Sinne), die der Mensch mit seinen Erfahrungen kaum überschreiten kann. Man braucht nur daran zu denken, wie schwierig es war, gewisse geographische Rahmen, gewisse biologische Gegebenheiten, einige Grenzen der Produktivität, sogar manche geistigen Zwänge zu sprengen: Auch Denkverfassungen sind Gefängnisse der langen Zeitabläufe.“ [16]

Aber umgekehrt liegt die „argumentative Bringschuld“ für den Traditionsbegriff nicht bei mir, ebenso wenig die Aufgabe, am historischen Material aufzuzeigen, warum und wie sich Grundelemente russischer Außenpolitik reproduzieren. Von einer Tradition auszugehen, bedeutet, diese zu bestimmen und diese nachzuweisen, vom 16. Jahrhundert an über die Jahrhunderte hinweg, bis zum russischen Umsturz 1917 und durch den Stalinismus hindurch über die Geschichte der UdSSR bis heute. Nicht einfach als Geschichte, sondern als charakteristische Tradition mit einem Kern, der sich tradiert.

Graßmann zitiert den russischen Außenminister Sergei Lawrow, der auf die Frage eines verblüfften Oligarchen antwortet, wie Putin denn eine so gewaltige Invasion in einem so kleinen Kreis hatte planen können, ohne dass die meisten hochrangigen Beamten des Kremls es für möglich gehalten hätten: „Er hat nur drei Berater. Ivan der Schreckliche, Peter der Große, Katharina die Große.“ [17] Das Zitat liest Graßmann als Illustration, wenn nicht gar Beweis seiner These der Kontinuität, führt jedoch an anderer Stelle selbst das an, was der Politikwissenschaftler Franz Neumann die „cäsaristische Identifizierung“ nennt (S. 93, FN 17). Aus Angst, Ablehnung zu erfahren, lehnen sich bonapartistische Herrscher an andere große Figuren an, identifizieren sich mit ihnen und zeigen, so Graßmann, „eine Obsession, mit der Vergangenheit zu pflegen“, die sich „typischerweise“ darin zeige, „dass sie als Hobbyhistoriker in Erscheinung treten und die ‚wahre Version‘ der Geschichte, die sie wiederaufzuführen gedenken, am liebsten selbst schreiben.“ [18] Als Beispiel wird Napoleons Werk über Cäsar angeführt, das Émile Zola als Auto-Apologie bezeichnete.

Rudi Schmidt schrieb 2022 in der Zeitschrift PROKLA zu Putins Rechtfertigungsrede vom 24. Februar 2022: „Putin weiß die Geschichte auf seiner Seite, wenn er sich handlungslegitimierend auf sie bezieht, er missachtet sie, wenn es gilt, ihre Ergebnisse zu korrigieren, weil er nicht mit ihnen einverstanden ist.“ [19] Das Lawrow-Zitat ist also Legitimierungsideologie, wie sie Graßmann selbst kritisiert, weder Erklärung noch Begründung für eine strukturelle Verankerung der dort aufgerufenen Kontinuität.

Eine Fundierung der Außenpolitik legt das Buch jedoch nahe, die bereits angeführte sogenannte asiatische Produktionsweise, eine von Marx diskutierte Produktionsweise, [20] von der Stalin nichts mehr wissen wollte, weil man sonst mit Marx den Stalinismus kritisieren konnte. Eine Debatte darüber wurde in der Sowjetunion zweimal administrativ abgewürgt, 1931 und 1972. [21]. Auch Graßmann bezieht sich positiv auf die „asiatische Produktionsweise“, schreibt ihr erklärenden Charakter zu. [22]
Gerade deshalb und weil die Tradition der russischen Außenpolitik nicht anhand des historischen Materials aufgezeigt wird, müsste der Begriff der asiatischen Produktionsweise, der für sich in Anspruch nimmt, die Tradition des russischen Despotismus zu begründen, über einen großen Zeitraum hinweg diskutiert werden – und das ausführlich. [23] Nicht nur, um die eigene These zu bekräftigen, sondern auch, um die Kritik zu entkräften, die es an diesem Begriff gibt. Denn es gibt Kritik und nicht von dem Schlag, der Russlands despotischen und imperialen Charakter kleinreden möchte. [24] Heiko Haumann fasst in seiner breit angelegten Geschichte Russlands beispielhaft zusammen: „Die Kategorie der asiatischen Produktionsweise taugt zur Kennzeichnung Russlands nicht, auch nicht in Zwischenformen.“ [25]

Die Diskussion des Begriffs wäre deshalb notwendig, weil Graßmann herausstellt, dass Russlands Außenpolitik selbst-zweckhaft sei, ^Graßmann, Marx gegen Moskau, S. 109.] wie das Kapital, was eine sehr starke These ist, die begründet werden müsste:

„Die traditionelle russische Außenpolitik ist einerseits wie das Kapital – übergriffig, alles verschlingend, selbstbezüglich, maßlos – aber andererseits ohne dessen Dialektik. Sie hat keinen Doppelcharakter und kommt ohne das aus, was Marx in den Grundrissen die ‚civilisirenden Tendenzen‘ (MEGA2 II/1, 326) des Kapitals genannt hat.“ (S. 109)

Eine gute Begründung wäre vor allem deshalb von Interesse, weil das Thema politisch aufgeladen ist. Während sich einige Linke gar nicht vorstellen können, dass Russland einen imperialistischen Krieg angezettelt hat und nicht einfach auf die geopolitischen Handlungen der NATO reagiert, so fühlen sich andere nur in ihrem antikommunistischen oder traditionell-reaktionären Russlandbild („Anti-Europa“) bestätigt und kommen gar nicht auf die Idee, nach Gemeinsamkeiten der Entwicklungen zwischen kapitalistischen Staaten zu fragen – und zu diesen gehört Russland. [26]

Es ist auch nicht nachzuvollziehen, warum mit Marx die Erklärung für die koloniale und imperialistische Geschichte Russlands (seit dem 16. Jahrhundert) derart eng geführt werden muss. Fast die gesamte Literatur zur russischen Geschichte erachtet diesen Aspekt als erklärungsbedürftig; auch die von Graßmann herangezogene Literatur, die über weite Strecken jedoch durchaus differenzierter argumentiert. „Die fortgehende Ausdehnung des imperialen Herrschaftsraums“, so etwa der auch von Graßmann rezipierte Dietrich Geyer, „verlangt nach einer Erklärung, nach einer Auskunft über die Ursachen dieses Tatbestands.“ [27] Gerd Koenen, den Graßmann nicht zitiert, konstatiert einen „seltsamen Kontrast“ [28] zwischen innerer Antriebsschwäche Russlands aufgrund rückständiger wirtschaftlicher Entwicklung und der Dynamik äußerer Expansion – im Westen oft am Rande von Kriegen mit europäischen Staaten und im Osten als ständige Ausdehnung des Herrschaftsbereichs. Die Liste an Zitaten, die einen Erklärungsbedarf konstatieren, ließe sich fortsetzen. Die Erklärungen dieser Expansionen selbst sind jedoch differenziert und Graßmann zählt sie nahezu alle auf:

„Für den eigentümlichen Expansionismus Russlands hat es selbstredend eine Vielzahl an Erklärungsversuchen gegeben. Herangeführt wurden so unterschiedliche Dinge wie: Russlands geographische Lage, die ihm entweder günstig (Handelsroute zwischen Ost und West) oder ungünstig (verzweifelter Versuch, einer einklemmten Landmasse Zugang zu schiffbarem Wasser zu verschaffen) sei; seine sicherheitspolitische Gefährdung, ob durch die Mächte Ost- und Nordeuropas […] oder durch nomadische Einfälle aus der eurasischen Steppe […]; die Erfordernisse seines Wirtschaftssystems, ob seiner alten Agrar- […] oder seiner neuen Industrieökonomie […]; die Widersprüche des Feudalismus, die gesetzmäßig zur staatlichen Zentralisierung der zersplitterten Fürstentümer führen mussten […]; dynastische Ambitionen, eine besonders messianische orthodoxe Kirche, die Ruhmsucht seines Militärapparats und seiner öffentlichen Meinung sowie natürlich eine zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Gemengelage aus all diesen und noch viel mehr Faktoren.“ (S. 64/65) [29]

Er kommt aber dennoch mit Marx auf eine „allgemeine Formel“, auf die politische Tradition, mit der bis heute nicht gebrochen worden sei. (S. 64/65) Dietrich Geyer hält hingegen fest: „Die Geschichte der Machtausdehnung Russlands geht in Globalerklärungen [die unter anderem Marx liefert; ISt] und handlichen Formeln nicht auf. Deshalb ist es wichtig, die einzelnen Expansionsvorgänge zu unterscheiden – nach ihrem jeweiligen historisch-chronologischen Zusammenhang und ihrer geographischen Bewegungsrichtung. Keiner Erläuterung bedarf, dass bei der östlichen und südöstlichen Ausweitung des Moskauer Herrschaftsraumes durchaus andere Faktoren wirksam waren als bei der Erweiterung des Reichsterritoriums nach Westen hin, die sich im Rahmen des europäischen Staatensystems vollzog und Russland als europäische Großmacht in Erscheinung brachte.“ [30] Allein diese Skizze deutet an, dass es geografisch unterschiedliche Expansionen gab, die jeweils unterschiedlich beurteilt und erklärt werden müssen – in ihrem jeweiligen historischen Kontext. Sie aus einem politischen Prinzip, einer „allgemeinen Formel“ (Graßmann) heraus erklären zu wollen, zudem mit einer transhistorischen Geltung, überzeugt nicht und taugt wenig, den aktuellen Krieg gegen die Ukraine zu erklären.

Trotz der von mir bemängelten Lücke sind Graßmanns Ausführungen zu Marx erhellend und aufschlussreich, viele Zitate und Ausführungen von Marx laden dazu ein, ihn im originalen Kontext zu lesen. Denn eines macht das Buch deutlich, dass internationale Verhältnisse und nicht zuletzt die Deutung Russlands als autoritärer Staat und Hort beziehungsweise Akteur der Reaktion für Marxʼ politisches Selbstverständnis konstitutiv waren. Das ist etwas, das ebenso gerne überlesen wird wie die Tatsache, dass er staatliche Außenpolitik nicht einfach aus ökonomischen Gegebenheiten ableitete. Wie auch bei anderen Fragen lag Marx hier über Kreuz mit Mitstreiter:innen und politischen Weggefährt:innen – weil er sich solidarisch mit demokratisch-republikanischen Kräften etwa in Polen zeigte. [31] Marx Auseinandersetzung mit der Geschichte Russlands zeigt auch, dass Russlands Wiege eben nicht in der Kyjiwer Rus lag:

„Das moderne Russland ging aus dem Großfürstentum Moskau hervor – das wiederum ein Neubeginn war und keine Kontinuität mit der Kyjiwer Rus aufwies […] – und existierte in seiner modernen Gestalt, so Marx, erst seit dem 18. Jahrhundert. Es gab kein ‚tausendjähriges‘ einheitliches russisches Reich: weder ein einziges russisches Volk noch eine zusammengehörige politische Tradition.“ (S. 183/184) [32]

Der Pluralität wurde unter Lenin noch Rechnung getragen (nicht zuletzt um ukrainische Nationalisten für die junge Sowjetunion zu gewinnen), unter Stalin bekämpfte man sie schließlich brutal. Damit ist der historische Bezugspunkt für die Erfindung einer russischen Nation nicht der Umsturz von 1917, sondern der Große Vaterländische Krieg als Gründungsmythos, [33] was wiederum erklärt, warum Stalin und der Sieg über Nazideutschland im gegenwärtigen Russland eine derart zentrale Rolle für die Legitimation des Systems und Propaganda einnimmt. Ein Umstand, dem man auch mit Marx nicht nachgehen kann. [34]

Auch Graßmanns Ausführungen zu den Herrschaftstechniken lesen sich erhellend – Einbindung beherrschter Kräfte für die Sicherung und Ausübung der eigenen Herrschaft – und können für die Analyse der Gegenwart fruchtbar gemacht werden (etwa im Rahmen eines sozialwissenschaftlich fundierten Begriffs von Oligarchie [35] und der Bonapartismustheorie). Dies wäre im Rahmen eines eigenen Kapitels zu theoretischen Konzepten möglich gewesen, ohne eine ungebrochene Kontinuität zu unterstellen. [36]

Aus seinem späten Leben sind vor allem Marx’ Briefentwürfe an Vera Sassulitsch bekannt, aus denen deutlich seine Abkehr vom Eurozentrismus herauszulesen ist, sein Interesse an nichteuropäischen Gesellschaften – und an Russland. [37] Das zeigt Graßmann auch anhand Marxʼ Interesse an Kostomarov, einem russischen und ukrainischen Historiker, Ethnologen und Schriftsteller sowie Panslawist und proukrainischen Sozialaktivist, der unter anderem in Kyjiw (1846/1847) und St. Petersburg (1859–1862) lehrte. Dank ihm entwickelt Marx die Position, dass nicht nur Polen, sondern auch die Ukraine eine demokratische Tradition gegen Moskau vorzuweisen hat. [38]

Diese historischen Bezugspunkte im Kampf gegen Moskau entbinden jedoch nicht von der Aufgabe, auf Grundlage der gegenwärtigen Verhältnisse zu begründen, warum Putin den Krieg begann – und ihn beginnen konnte.

Zuerst erschienen bei: soziopolis (1. Oktober 2025)


  1. Die russische Präsidialverwaltung verteilte bereits im Januar 2014 „Unsere Aufgaben“ des glühenden Antisemiten Iljin an Gouverneure, wichtige Beamte und die politischen Kader. Zu Russlands Rechten vgl. Katharina Bluhm / Mihai Varga, „Zwischen Loyalität und Konfrontation“, in: Michael Zürn (Hg.). Zur Kritik des liberalen Skripts. Innere Spannungen, gebrochene Versprechen und die Notwendigkeit der Selbsttransformation, Baden-Baden 2024, S. 64–89. ↩︎
  2. Vgl. Yelizaveta Landenberger, „Karl-Marx-Experte über Außenpolitik. ‚Dann ist es eben nur ein halber Marx‘“, in: Die Tageszeitung, 11.1.2025; online unter: https://taz.de/Karl-Marx-Experte-ueber-Aussenpolitik/!6058339/ [30.9.2025]; Sebastian Klauke, „Mit Marx für Waffenlieferungen?. Ein Interview mit dem Sozialwissenschaftler Timm Graßmann über Marx' Haltung zu Nation und Nationalismus - und deren Anwendung auf den Ukrainekrieg“, in: Neues Deutschland, 29.11.2024; online unter: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1187168.marxologie-mit-marx-fuer-waffenlieferungen.html [30.9.2025]; Paul Simon, „Timm Graßmann, Marx-Experte, im Gespräch über sein Buch ‚Marx gegen Moskau‘. ‚Bonapartismus im Westen, Zarismus im Osten‘“, in: Jungle World, 23.1.2025; online unter: https://jungle.world/artikel/2025/04/interview-timm-grassmann-marx-bonapartismus-im-westen-zarismus-im-osten [30.9.2025]; Jungle World publizierte zudem einen Auszug aus Graßmanns Buch: Timm Graßmann, „Was Marx über Russland dachte. Marx gegen Moskau“, in: Jungle World, 23.1.2025; online unter: https://jungle.world/artikel/2025/04/marx-gegen-moskau [30.9.2025]; Die Blätter für deutsche und internationale Politik veröffentlichten einen Beitrag auf Basis von Buchauszügen: Timm Graßmann, „Auf Eroberung folgt Eroberung. Wie Karl Marx Russlands Krieg gegen die Ukraine betrachten würde“, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (2025), 1; online unter: https://www.blaetter.de/ausgabe/2025/januar/auf-eroberung-folgt-eroberung [30.9.2025] ↩︎
  3. Helge Buttkereit, „Linksdrehende Kriegstreiberei. Kriegstüchtig ‚mit Marx‘: Timm Graßmann zieht mit haltlosen Analogieschlüssen ‚gegen Moskau‘ zu Felde“, in: Junge Welt, 6.1.2025; online unter: https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/491182.ideologieproduktion-linksdrehende-kriegstreiberei.html [30.9.2025]; Raimund Ernst, „Rezension Timm Graßmann: Marx gegen Moskau“, in: Marxistische Blätter (2025), 2; Die knappe Besprechung in der Schweizer Wochenzeitung wagt kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung: Michael Krätke, „Marx und der Imperialismus“, in: Die Wochenzeitung, 6.2.2025; online unter: https://www.woz.ch/2506/sachbuch/marx-und-der-imperialismus/!RQCHR81AW6T0 [30.9.2025]; Ausführlicher ist die Rezension im Philosophie Magazin: Christoph David Piorkowski, „Gegen die ‚Friedenswindbeutel‘ – Karl Marx‘ Kritik des bequemen Pazifismus“, in: Philosophie Magazin, 16.5.2025; online unter: https://www.philomag.de/artikel/gegen-die-friedenswindbeutel-karl-marx-kritik-des-bequemen-pazifismus [30.9.2025]; Dass in den Marxistischen Blättern im Zuge eines sehr harten Urteils der Vorwurf formuliert wird, Graßmann argumentiere frei von der Wissenschaft, weil er etwa einen Band von 1977 nicht genutzt habe (Hans-Peter Harstick (Hg.), Karl Marx über Formen vorkapitalistischer Produktion. Vergleichende Studien zur Geschichte des Grundeigentums 1879–1880, Frankfurt am Main 1977, S. 2–345), also als Mitarbeiter der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2) an der Quelle sitze, diese aber ignoriere, wirkt arg albern, denn genau die Texte, die das Buch vor bald fünfzig Jahren zugänglich gemacht hat, rezipiert Graßmann, aber eben nach der neuesten wissenschaftlichen Edition (https://megadigital.bbaw.de/exzerpte/index.xql?band=IV-27#IV-27), die der Rezensent offensichtlich nicht kennt. ↩︎
  4. Karl Marx, Die ethnologischen Exzerpthefte. hrsg. von Lawrence Krader, übers. von Angelika Schweikhart, Frankfurt am Main 1976. ↩︎
  5. Ohne Autor, „Nikolaj Ivanovič Kostomarov (Костомаров). 1817–1885“, in: MEGAdigital; online unter: https://megadigital.bbaw.de/exzerpte/intro.xql?id=M3601189 [30.9.2025] ↩︎
  6. Yelizaveta Landenberger, „Karl-Marx-Experte über Außenpolitik“. ↩︎
  7. Timm Graßmann, „Auf Eroberung folgt Eroberung.“ ↩︎
  8. Siehe hierzu auch Bruno Leipold, Citizen Marx. Republicanism and the Formation of Karl Marx‘ Social and Political Thought, Princeton 2014; ders., „Marx’ Soziale Republik“, in: Politik & Ökonomie, 20.1.2023; online unter: https://politischeoekonomie.com/marx-soziale-republik/ [30.9.2025]; sowie die lesenswerte Besprechung von Søren Mau, „Marx‘ Republican Communism. A Review of Bruno Leipold’s Citizen Marx”, in: Spectre, 29.5.2025; online unter: https://spectrejournal.com/marxs-republican-communism/ [30.9.2025]. ↩︎
  9. Angefangen mit David Rjasanoff, „Karl Marx über den Ursprung der Vorherrschaft Rußlands in Europa“, in: Die Neue Zeit (1909), Ergänzungshefte 5, S. 1–64; und Helmut Krause, Marx und Engels und das zeitgenössische Rußland, Gießen 1958; bis zu anderen Arbeiten, u.a.: Maximilien Rubel, Rußland und die russische Revolution im Denken von Karl Marx (Schriften aus dem Karl-Marx-Haus, Heft 2), Trier 1969; Aber auch neuere Arbeiten konnten noch nicht auf das Material zurückgreifen, das Graßmann auswertet, etwa: Skadi Krause, „Marx’ Russlandbild“, in: Die Internationale Marx-Engels-Stiftung (Hg.), Marx-Engels-Jahrbuch 2010, Berlin 2011, S. 53–69. ↩︎
  10. Putins Herrschaft mit Marxʼ Bonapartismus-Konzeption zu analysieren ist durchaus erhellend, wie Felix Jaitner gezeigt hat, Graßmann zitiert den Beitrag: Felix Jaitner, „Die Entstehung des Kapitalismus und das ‚Regime der Ruhe‘. Bonapartismus in Russland von Jelzin bis Putin“, in: Martin Beck / Ingo Stützle (Hg.), Die neuen Bonapartisten. Mit Marx den Aufstieg von Trump & Co. verstehen, Berlin 2018, S. 205–223. Der Beitrag malt den Krieg bereits damals an die Wand: „Dennoch zeichnen sich im ‚Krim-Konsens‘ bereits die Konturen modifizierter Herrschaftsverhältnisse ab. Am deutlichsten ist die Neuausrichtung der Außenpolitik zur Sicherung der imperialen Interessen Russlands, die mit einer schärferen nationalistischen, imperialen Rhetorik einhergeht. Vorläufig stärkt der ‚Krim-Konsens‘ die Position des Präsidenten. Als charismatischer Bonaparte steht Putin nicht nur für Stabilität in ökonomischen Krisenzeiten, er verkörpert auch die Rückkehr Russlands auf die Weltbühne.“ (S. 220). Wichtig ist hier herauszustellen, dass „Bonapartismus“ nicht allein eine Herrschaftsform charakterisiert, vielmehr ein Erklärungsversuch darstellt, wie und warum sich diese politische Geltung verschaffen kann. Wie der imperiale Charakter zu erklären ist, steht auf einem anderen Blatt. ↩︎
  11. Ohne Autor, „Das neue Kapitel der Studienausgabe MEW seit 2006 und was sie von der Gesamtausgabe unterscheidet“, in: Dietz Berlin, 2.3.2022; online unter: https://dietzberlin.de/das-neue-kapitel-der-studienausgabe-mew-seit-2006-und-was-sie-von-der-gesamtausgabe-unterscheidet/ [30.9.2025]. ↩︎
  12. Zur Geschichte des Textes, der noch nicht in der MEGA2 erschienen ist, unter anderem: Hanno Strauß, Karl Marx über die russisch-englischen Beziehungen im 18. Jahrhundert in dem Fragment „Revelations of the diplomatic history of the 18th Century“, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte 1997, Berlin 1998, S. 239–270; sowie Svetlana Gavrilcenko, „Zur Entstehungsgeschichte von Marx’ ‚Revelations of the diplomatic history of the 18th century‘“, in: Rolf Hecker / Carl-Erich Vollgraf / Richard Sperl (Hg.), Marx-Engels-Edition und biographische Forschung (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2000). Hamburg 2000, S. 80–85; und jüngst anhand der 1981 bei Suhrkamp erschienen Ausgabe mit einem Vorwort von Karl August Wittfogel: Doris Maja Krüger, „Erkenntnisversprechen in beunruhigenden Zeiten. Karl August Wittfogel ediert Karl Marx, 1979–1981“, in: Doris Maja Krüger (Hg.), Karl Marx in der Geschichte. Entstehung und Rezeption der Marx’schen Kritik, Bielefeld 2025, S. 91–118. ↩︎
  13. Karl Marx, Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie im 18. Jahrhundert, hrsg. u. eingel. v. Karl August Wittfogel, übers. von Elke Jessett und Iring Fetscher, Frankfurt am Main 1980, S. 126. Lange gingen Marx und Friedrich Engels davon aus, dass das sogenannte Testament Zar Peters des Großen echt ist und Aussagen zu Russland basieren darauf. Bereits zu Lebzeiten von Marx und Engels, in den 1850er Jahren wurden Zweifel laut und weil schließlich nachgewiesen wurde, dass das Dokument eine Fälschung ist. In seinem Blätter-Beitrag schreibt Graßmann: „Den Kritikern seiner Russland-Publizistik erschien Marx als unmaterialistisch, idealistisch und verschwörungstheoretisch.“ Leider erwähnt er nicht, dass Marx selbst lange einer Fälschung aufsaß, einem Verschwörungsnarrativ, was die Frage aufwirft, wie diese – wie auch das eurozentristische Russlandbild, das auch bei den Junghegelianern zu finden war – Marx‘ Analyse geprägt haben. Hierzu etwa Helmut Fleischer, „Marx, Engels, der Zar und die Revolution“, in: Mechthild Keller (Hg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 19. Jahrhundert: Von der Jahrhundertwende bis zur Reichsgründung (1800–1871), München 1991, S. 684–738; Skadi Krause, Marx’ Russlandbild; Dieter Groh, Russland im Blick Europas. 300 Jahre historische Perspektiven, Frankfurt am Main 1988, S. 383–386. ↩︎
  14. Graßmann zitiert: Dietrich Geyer, Das russische Imperium: von den Romanows bis zum Ende der Sowjetunion, Berlin 2020. ↩︎
  15. Fernand Braudel, „Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue dureé“, in: Claudia Honegger (Hg.), M. Bloch, F. Braudel, L. Febvre u. a. Schrift und Materie der Geschichte Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt am Main 1977, S. 47–85, hier: S. 55. ↩︎
  16. Ebd. ↩︎
  17. Max Seddon / Christopher Miller / Felicia Schwartz, “How Putin blundered into Ukraine — then doubled down”, in: Financial Times, 23.2.2023; online unter: https://www.ft.com/content/80002564-33e8-48fb-b734-44810afb7a49 [30.9.2025]. Katharina Bluhm deutet das „Losschlagen des militärisch-industriellen Komplexes“ unter „Stilllegung anderer Elitefraktionen, die ganz offenbar nicht in die Kriegsvorbereitung einbezogen waren“ als „Wahrnehmung einer scheinbar günstigen Gelegenheit“: „Aber das Eingehen eines solchen Risikos erscheint vor allem als Ausdruck von Panik – einer Panik, womöglich die letzte Chance zur Geschichtskorrektur zu verpassen. Dabei geht es nicht um die Wiederherstellung eines vorherigen Zustandes, sondern um die Zukunft.“ Katharina Bluhm, „Die Ideologie hinter Russlands Krieg“, in: ZOiS, 23.3.2022; online unter: https://www.zois-berlin.de/publikationen/zois-spotlight/die-ideologie-hinter-russlands-krieg [30.9.2025]. ↩︎
  18. Ebd., S. 94. ↩︎
  19. Rudi Schmidt, „Putins Rechtfertigungsrede vom 24. Februar für seinen Krieg gegen die Ukraine“, in: [PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 52 (2022), 206.](file:///Users/istuetzle/Downloads/schmidt_putin_ende-1.pdf) ↩︎
  20. Die asiatische Produktionsweise zeichnet sich Marx zufolge durch fehlendes Privateigentum an Boden, Gemeindestrukturen und eine ökonomisch regulierende politische/despotische Instanz aus („Staat“). Besonders relevant ist das System von Bewässerung (siehe hierzu Marx' Manuskript zu den „Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehn“ in den sogenannten Grundrissen (Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, 42: Werke - Band 42 / Karl Marx, Friedrich Engels, Berlin 1983, S. 382ff; vgl. auch Band 13, S. 9, 21). Es spricht wiederum für Marx, dass er, nach Studium nicht-europäischer Gesellschaften, den Begriff nicht mehr verwendet, wenn auch das Wort „asiatisch“ durchaus auftaucht, etwa in Marx‘ Exzerpte von 1878 zu Ilarion Ignat’evič Kaufmans Theorie und Praxis des Bankwesens (russisch), vgl. Karl Marx, „Exzerpte und Notizen: MEGA IV/25. Heft I (1878)“, in: MEGAdigital; online unter: https://megadigital.bbaw.de/exzerpte/detail.xql?id=M0012596 [30.9.2025]. ↩︎
  21. Reinhart Kößler, Despotie in der Moderne, Frankfurt am Main 1993, S. 19. In seinem Buch: ders., Dritte Internationale und Bauernrevolution. Die Herausbildung des sowjetischen Marxismus in der Debatte um die „asiatische“ Produktionsweise, Frankfurt am Main 1982; stellt Kößler die konstitutive Rolle der Debatte um die asiatische Produktionsweise in den 1920er- und 1930er Jahren für den Sowjetmarxismus heraus. ↩︎
  22. Siehe Zitat oben und im Buch u.a. S. 13/14, 67, 77, auch wenn er auf S. 77 hinzufügt, dass sie „wohl“ heute nicht mehr existiere. In einer Fußnote schreibt Graßmann: „Womöglich hätte Karl August Wittfogel […] der die stalinistische Sowjetunion (‚ein auf Industrie beruhendes System allgemeiner (Staats-)Sklaverei‘) als Weiterentwicklung der asiatischen Produktionsweise auffasste, das heutige Russland als ‚industrielle Apparatsgesellschaft‘ und Putins Herrschaft als Transformation des totalen ‚Apparatstaats‘ verstanden.“ (S. 77, Fn. 2) Zu Wittfogels Russland-Bild und der späten Rezeption des marxschen Textes: Doris Maja Krüger, „Erkenntnisversprechen in beunruhigenden Zeiten“; Sowie: Reinhart Kössler / Karl August Wittfogel (1896–1988). „Orientalische Despotie und mehrlinige Entwicklung“, in: Zeitschrift für Entwicklungspolitik (2005), 21, S. 60–62; der resümiert: „freilich ist seine [Wittfogels] Argumentation historiographisch unhaltbar: Wittfogel übertreibt den Einfluss der Mongolenherrschaft und spielt den immer präsenten Austausch mit dem Westen herunter, vor allem die strategischen Anstrengungen zur Verwestlichung seit Peter I. […]. Dies gilt auch schon für Marx’ Russland-Broschüre (1856/57), die bei Erscheinen dem Forschungsstand rund 100 Jahre hinterher hinkte, von Wittfogel aber als Dokument der Einsicht in den asiatischen Charakter Russlands gepriesen wurde, wovor Marx ebenso wie Lenin angeblich später zurückgewichen seien […]“ (S. 61). ↩︎
  23. Das ist auch eine Kritik von Christoph David Piorkowski im Philosophie Magazin: „Denn auch wenn Marx streng materialistisch argumentiert, und später die Hoffnung hegte, dass Russland sich von der Moskowiter Tradition lossagen könnte, hat die Rede von der ‚asiatischen Produktionsweise‘ doch einen essentialistischen Klang, der mit guten Gründen kritisiert werden kann.“ ↩︎
  24. Vgl. Etwa Maurice Godelier, „The Concept of the Asian Mode of Production and the Marxist Model of Social Development“, in: Soviet Anthropology and Archeology 4 (1965), 2, S. 39–41; über Perry Anderson, „The ‘Asiatic Mode of Production’“, in: ders. (Hg.), Lineages of the Absolutist State, London 1974, S. 462–549; (in der deutschen Übersetzung nicht übernommen) und Reinhart Kößler (anhand von Rudi Dutschkes Promotion und Bernd Rabehls Edition von Marx‘ Geschichte der Geheimdiplomatie in: Reinhart Kößler, „Zur Kritik des Mythos vom ‚asiatischen‘ Rußland“, in: PROKLA. Zeitschrift für Kritische Sozialwissenschaft 35 (1979), 9, S. 105–131.) über Bipan Chandra (ders., „Karl Marx, His Theories of Asian Societies, and Colonial Rule“, in: Review (Fernand Braudel Center) 5 (1981), 1, S. 13–91) und Young-bae Song (ders., Konfuzianismus, Konfuzianische Gesellschaft und die Sinisierung des Marxismus, ein Beitrag zur Widerlegung der Theorie der ‚asiatischen Produktionsweise‘ und zum sozialen und ideengeschichtlichen Verständnis der chinesischen Revolution. Promotion an der Universität Frankfurt, Frankfurt am Main 1982.). Auf Kößlers Haupteinwand, Marxʼ Ausführungen zur russischen Geschichte nicht mit dem Stand der Forschung abzugleichen, geht Graßmann nicht ein, sondern verwirft nur dessen Kritik, Marx argumentiere in „idealistischer Manier“. Jairus Banaji bezeichnet die asiatische Produktionsweise als „Restkategorie der Unwissenheit“: „It was clearly a residual category, a sort of ‘non-Europe’ which Marx believed (or half-believed) embodied a common economic structure where the ruling class, if one could speak of such a class, was subsumed in the state, and the mainspring of the economy lay in the tenacity of unchanging village-communities. This model is usually called the ‚Asiatic mode of production’ and was a sort of default-category, the most sense Marx and Engels could make of societies whose history was largely inaccessible to them.“ (Jairus Banaji, Theory as History. Essays on Modes of Production and Exploitation, Leiden 2010, S. 349) Die allgemeinere Literatur zur sogenannten asiatischen Produktionsweise ist nahezu unüberschaubar und mangelt meist daran, dass Manuskripte, die noch nicht veröffentlicht waren, nicht berücksichtigt werden konnten. Beispielhaft für Marx‘ Londoner Heft vgl. Soichiro Sumida, “The Breadth and Depth of ‚the Asiatic Form‘ in Pre-Capitalist Economic Formations. A Study from the London Notebooks and the Manuscript of Capital”, in: Die Internationale Marx-Engels-Stiftung (Hg.), Marx-Engels-Jahrbuch 2015/16, Berlin 2016, S. 103–114. Der Artikel im Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus von Lawrence Krader rezipiert leider nicht die relevante Literatur. ↩︎
  25. Heiko Haumann, Geschichte Russlands, 2. Aufl., Zürich 2010, S. 75. ↩︎
  26. Felix Jaitner zeichnet in zwei Bücher die Entwicklung nach: Einführung des Kapitalismus in Russland von Gorbatschow bis Putin, Hamburg 2014; Ende einer Weltmacht. Vom autoritär-bürokratischen Staatssozialismus zum Ressourcenextraktivismus und Kriegswirtschaft in die Zukunft?, Hamburg 2023. Katharina Bluhm bezeichnet das Modell in ihrem Buch: Russland und der Westen. Ideologie, Ökonomie und Politik seit dem Ende der Sowjetunion, Berlin 2023; als „oligarchischen Staatskapitalismus“. ↩︎
  27. Dietrich Geyer, Das russische Imperium. Von den Romanows bis zum Ende der Sowjetunion, Berlin 2020, S. 113. ↩︎
  28. Gerd Koenen, Der unerklärte Frieden: Deutschland, Polen und Russland. Eine Geschichte, Frankfurt am Main 1985, S. 69. ↩︎
  29. Neben den genannten Gründen und der entsprechenden Literatur lässt sich ergänzen: Carsten Goehrke, „Raum als Schicksal? Geographische und geopolitische Entwicklungsbedingungen in der Geschichte Russlands“, in: Karl Schlögel (Hg.), Mastering Russian Spaces. Raum und Raumbewältigung als Probleme der russischen Geschichte, München 2011, S. 27–45; Dominic Lieven, Empire. The Russian Empire and its Rivals, New Haven / Conn 2000, S. 264; Andreas Kappeler, Russland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, München 1992, S. 21, 44, 93–98; Marc Raeff, “Patterns of Russian Imperial Policy towards the Nationalities”, in: Edward Allworth (Hg.), Soviet Nationality Problems, New York 1971, S. 22-42; Koenen, Der unerklärte Frieden, S. 69–75. ↩︎
  30. Geyer, Das russische Imperium, S. 115. ↩︎
  31. Siehe hierzu prägnant Graßmanns Ausführungen in den Blättern. ↩︎
  32. Zum Ursprungsmythos der Kyjiwer Rus als Kristallisationspunkt konkurrierender Geschichtsdeutungen vgl. Andreas Kappeler, Russland und die Ukraine. Verflochtene Biographien und Geschichten, Wien 2012, S. 231–240. ↩︎
  33. Bluhm, Russland und der Westen, S. 347. Aus Stalins Vortrag „Aufgaben der Wirtschaftler“ von 1931 werden zwar gerne die Ausführungen zur Notwendigkeit von industriellem Fortschritt zitiert, aber nicht, in welchen Kontext er diese stellt: „Die Geschichte des alten Rußland bestand unter anderem darin, daß es wegen seiner Rückständigkeit geschlagen wurde. Es wurde geschlagen von den mongolischen Khans. Es wurde geschlagen von den türkischen Begs. Es wurde geschlagen von den schwedischen Feudalen. Es wurde geschlagen von den polnisch-litauischen Pans. Es wurde geschlagen von den englisch-französischen Kapitalisten. Es wurde geschlagen von den japanischen Baronen. Es wurde von allen geschlagen wegen seiner Rückständigkeit.“ [in: J. W. Stalin: Werke, Bd. 13, Berlin 1950–1955, S. 35 – diese auf 16 Bände angelegte Werkausgabe beim ostdeutschen Karl Dietz Verlag endet mit Band 13 und wurde nach Stalins Tod eingestellt. In der Bundesrepublik wurde die Ausgabe der Werke von der KPD/ML mit Band 14 (Dortmund 1976) und Band 15 (Dortmund 1979) fortgesetzt.] ↩︎
  34. Hierzu: Gerd Koenen, „Der fatale Nexus. Deutschland und Russland 1925–2025“, in: Osteuropa 75 (2025), 1–3, S. 7–34. ↩︎
  35. Joachim Becker, „Oligarchie – eine Form bürgerlicher Herrschaft: Das Beispiel osteuropäischer semi-peripherer Kapitalismus“, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 45 (2015), 180, S. 409–432. ↩︎
  36. Wie divers und polyphon politische Motive, Ideen und Konzepte in Russland nach 1990 waren, stellt Bluhm (Russland und der Westen) dar. Sie kann zeigen, wie unter Putin einerseits eine ideologische und politische Zurichtung stattfand, die jedoch auch mit sich brachte, dass Russland nicht auf den von Putin begonnenen Krieg politisch-militärisch-ideologisch vorbereitet war (ebd., S. 357ff.). Die längeren Linien, die auch Bluhm zeichnet, machen zudem deutlich, dass auch ohne Putin das Modell des oligarchischen Staatskapitalismus nicht an ein Ende kommen dürfte. Gleichzeitig stellt sie resümierend heraus: „Die Rückkehr Russlands als eine autoritäre, illiberale und konservative Weltmacht war nicht vorherbestimmt, weder durch seine Geschichte noch durch einzelne Ereignisse.“ (ebd., S. 383) ↩︎
  37. Hierzu: Kolja Lindner (Hg.), Marx, Marxism and the Question of Eurocentrism, Cham 2022; sowie jüngst Kevin Anderson, The Late Marx’s Revolutionary Roads. Colonialism, Gender, and Indigenous Communism, London / New York 2025. ↩︎
  38. Marx’ Exzerpte bekommen verstärkt Interesse in der Marxforschung. Zurecht. Jedoch wäre gerade dann, wenn sie unmittelbarer Gegenstand des Interesses werden, nicht nur wichtig, was Marx liest und exzerpiert, sondern eben auch, was er in den Büchern überblättert, nicht erwähnt und vor allem der Stand der Forschung etc. Kappeler (Russland und die Ukraine) etwa zeichnet ein differenziertes Bild von Kostomarow, der mitunter der auch als Spitzel und Denunziant für die russische Staatspolizei aktiv war und antijüdische Pogrome rechtfertigte. ↩︎

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