Der Zollhammer und die schlechte Theoriebilanz der Ökonomiekritik
»Der Präsident muss den Welthandel neu regeln«, sagte US-Handelsminister Howard Lutnick dem Fernsehsender CBS. Der »Zollhammer«, mit dem die USA auf den Amboss des Weltmarkts gehauen hat, sorgte für ebenso viel Entsetzen wie Unverständnis. Unverständnis im wortwörtlichen Sinn, dass nämlich nur schwer erklärt werden kann, was die treibende Motive und Interessen sind, welche Machverhältnisse und Akteure sich hier Geltung verschaffen. Nur wenige Tage danach plädiert Elon Musk, Donald Trumps extrem rechte Hand, für eine Freihandelszone mit der Europäischen Union (EU) und es verdichten sich die Anzeichen, dass der Vorstoß nicht als wirtschaftspolitische Maßnahme, sondern viel eher als geopolitisches Machtmittel zu erklären ist. Ich bin gefragt worden, ob ich dazu etwas Erhellendes schreiben könnte – und habe abgesagt. Vielleicht könnte ich das eine oder andere zur Klärung beitragen, aber nichts, was mich selbst zufriedenstellt und die Fragen beantwortet, die an mich herangetragen wurden. Die Vorgänge bieten jedoch Anlass, über Zusammenhänge aufzuklären, die einem breiteren Publikum meist unbekannt sind, aber in der wirtschaftspolitischen Debatte implizit präsent – ohne dass darüber gesprochen wird.
Der Ökonom Heiner Flassbeck springt im Surplus-Magazin Trump zur Seite:
Wer jedoch der amerikanischen Regierung angesichts der ergriffenen Maßnahmen Merkantilismus vorwirft, ist ein Narr. Die Merkantilisten sind diejenigen, die über Jahre und Jahrzehnte Leistungsbilanzüberschüsse aufweisen und sich nun wundern, dass das wichtigste und größte Defizitland dieser Erde ihren Merkantilismus, auf den sie in der Regel noch stolz sind, nicht mehr erträgt. Besonders Deutschland steht zu Recht am Pranger und wird zu Recht von den amerikanischen Maßnahmen getroffen.
Der Ökonom Rüdiger Bachmann geht im Interview mit t-online von einer konträren Problembeschreibung aus.
Ein Handelsbilanzdefizit kann zwar ein Anzeichen für Probleme sein, aber gerade für Amerika ist es genau das Gegenteil. Das Defizit bedeutet zunächst, dass der Rest der Welt Amerika Güter überlässt im Gegenzug für Schuldverschreibungen. […] Es gibt einen Kapitalimport in die USA, der dann wiederum Güterimporte finanziert, mit denen Amerika über seine eigenen Produktionsmöglichkeiten hinaus konsumieren kann. Das Handelsbilanzdefizit ist im Grunde das Spiegelbild der großen Attraktivität des amerikanischen Kapitalmarkts.
Wie kann es sein, dass man zu derart konträren Aussagen kommt? Ausgangspunkt ist die Zahlungsbilanz, die die Transaktionen zwischen In- und Ausland erfasst. Internationale Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ländern werden quasi-buchhalterisch dargestellt, es werden ökonomische Prozesse nachvollzogen, von Handel (mit Waren und Dienstleistungen) – diese stellt Flassbeck ins Zentrum – und Kapitalbewegungen (vor allem von Vermögenpapieren in Form von Krediten, Wertpapieren und Direktinvestitionen) – die wiederum Bachmann als Ausgangspunkt seiner Erläuterung wählt. Die Zahlungsbilanz setzt sich aus diesen beiden Bilanzen zusammen. Da die berücksichtigten Leistungs- wie Kapitalströme sich auf eine bestimmte Periode beziehen, handelt es sich bei der Zahlungsbilanz nicht um eine Bilanz im engeren Sinne; es werden keine Bestände, sondern Stromgrößen, d.h. Kapital-, Waren- und Geldbewegungen, einer bestimmten Periode – meist eines Jahres – dokumentiert.
Eine Zahlungsbilanz muss immer ausgeglichen sein, d.h. die Differenz aus Leistungsbilanzsaldo und Kapitalbilanzsaldo ergibt Null. Das ist keine rechnerische Finesse, sondern entspringt aus dem im Kapitalismus vorherrschenden Prinzip des Tausches, d.h. dass für Waren und Dienstleistungen ebenso Geld bezahlt werden muss wie für Kredite Zins oder für Aktien und Wertpapiere der jeweilige Kurswert. Importiert ein Land mehr Waren oder Dienstleistungen als es exportiert, muss die Differenz irgendwie finanziert werden – entweder mit den Devisen der Zentralbank oder mit einem Kredit aus dem Ausland – so bei den USA. Einem Leistungsbilanzüberschuss müssen Kapitalexporte gegenüberstehen, so etwa bei China oder Deutschland. Diese gewähren halten Forderungen gegenüber den USA (in Form von Wertpapieren), weshalb auch gerne gesagt wird, hier werde »gespart«.
Der saldentechnische Zusammenhang unterstellt keinen bestimmten Kausalzusammenhang zwischen Kapital- und Leistungsströmen, sondern macht eine theoretischen Interpretation notwendig. Dass also Flassbeck und Bachmann die Zusammenhänge vom jeweils anderen Ende her aufziehen, lässt sich nicht mit der Zahlungsbilanz begründen, sondern nur mit den ökonomietheoretischen Prämissen, die beide nicht explizieren.
Interessanterweise gilt Flassbeck als der progressive Ökonom, der sich an John M. Keynes orientiert, Bachmann hingegen als pragmatischer Anhänger der Orthodoxie (siehe hierzu im Rahmen eines »kleinen« Methodenstreits Fabian Linder im ehemaligen Blog Herdentrieb der ZEIT). Warum ist das erstaunlich?
Mit einer keynesianischen Interpretation der Zahlungsbilanz müsste der Ausgangspunkt die Nicht-Neutralität des Geldes und die Hierarchie der Märkte sein. Die konstitutive Rolle des Geldes bekommt auf dem Weltmarkt eine neue und weitere Bestimmung: Für den internationalen ökonomischen Zusammenhang bedarf es eines Weltgeldes – das ist der US-Dollar. Wer Geld sicher halten will, legt es deshalb in US-Wertpapieren an. Zudem bestimmen im Anschluss an die These von der Hierarchie der Märkte die Kapitalströme die Leistungsströme: Importierte Waren und Dienstleistungen müssen finanziert werden, weshalb immer die Gläubiger die Schuldner dominieren. Diese zwei grundlegenden theoretischen Prämissen bestimmen wesentlich die keynessche Interpretation der Zahlungsbilanz. Ein Ausgangspunkt, der sich eher in der Position von Bachmann wiederfindet.
Wir kennen die Diskussion aus der Debatte um die Bewertung der Zahlungsbilanz bei der Bewertung der Eurokrise ab 2010. Schon damals rückte Flassbeck (zusammen mit Friederike Spiecker) das deutsche Exportmodell und die Leistungsbilanzungleichgewichte ins Zentrum (siehe hier). Griechenlands Leistungsbilanzdefizite war jedoch Folge und nicht Ursache des Kapitalimporte – eine Position, die aus einer an Keynes und an Marx orientierten Perspektive viel plausibler ist. Im Vergleich zum Zentrum der EU konnte das Land mit hohen Wachstumsraten und einer hohen Profitabilität des Kapitals aufwarten. Für die USA als Weltmacht hatte Leo Panitch ähnlich argumentiert und immer wieder davor gewarnt, die USA abzuschreiben oder ihren Niedergang zu prophezeien.
Der Weltmarkt ist keine Handelsplattform, sondern er ist kapitalistischer Weltmarkt, in Nationalstaaten fragmentiertes Terrain, auf dem das Kapital nach Verwertungsmöglichkeiten sucht. Der Kapitalismus ist eine Geldwirtschaft mit einem Zentrum, die das Weltgeld innehat. Konkurrenzfähigkeit bedeutet nicht einfach, dass ein Land mehr Exporte als Importe erzielen muss. Es bedeutet auch, dass höhere Wachstumsraten erzielt werden müssen, d.h. relativ höhere Profitraten – nicht allein des industriellen Kapitals, sondern auch des fiktiven Kapitals. Es bedarf einen großen Kapitalmarkt mit einer Währung, die in der Hierarchie der Währungen oben steht. Diese Zusammenhänge werden – wie bei Flassbeck – bei einem einseitigen Fokus auf der Anpassung des Lohnverhältnisses zur Steigerung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit weitgehend ausgeblendet. Bachmann ist hier – absurderweise – näher an der Realität.
Wie es derzeit angeraten ist, über den Faschismus-Begriff zu diskutieren, sich zu fragen, welche politische Form der Herrschaft sich in den USA herausbildet, so wichtig ist eine ökonomietheoretische Alphabetisierung, die nicht an der Oberfläche bleibt, sondern nach grundlegenden Zusammenhängen des kapitalistischen Weltmarkts fragt (Zwischenergebnisse hat Thomas Sablowski in der PROKLA aufbereitet, Teil 1 und Teil 2). Nicht zu letzt deshalb, um den »Sachzwang Weltmarkt« (Elmar Altvater) als Resonanzboden des Faschismus begreifen zu können.